Bergauf, aber ohne jede Kraftanstrengung. Bequemer geht es wirklich nicht. Mit der Seilbahn schweben wir von Grän im Tannheimer Tal in einer Fichtenschneise in nur fünfzehn Minuten bis zum Füssener Jöchle. Ein Katzensprung ist es dann nur noch zum Raintaljoch. Ein schmaler, von Wurzeln durchzogener Pfad führt bergab bis zu unserem „Basislager“, der Füssener Hütte. Auf der Hochalm, nicht weit von Reutte, ergänzen die Otto-Mayr- und die Willi-Merkl-Hütte das „Drei-Hütten-Tal“.
Der erste Wandertag, den wir mit Spannung erwarten, beginnt mit Sonnenschein. Wir wandern wieder Richtung Füssener Jöchle und folgen an der zweiten Abzweigung, dem Wegweiser zur Großen Schlicke. Ein Höhenweg führt zwischen Latschengebüsch in der Sonne stetig bergauf. Da leuchten in den Wiesen Farbtupfer von Enzian und Almrausch. Ein Falke auf einem Baumwipfel beäugt uns Wanderer misstrauisch. Nur noch ein paar steile Serpentinen auf Geröll und felsigem Untergrund und wir erreichen das Gipfelkreuz der Großen Schlicke in 2.059 Metern Höhe. „Erst mal Pause machen“, sagt Ilse und lässt sich auf einen Stein fallen. Aus dem Wolkenmeer ragen die mächtigen Gipfel der Gehrenspitze, Kellenspitze, Gimpel und der Roten Flüh hervor. Der helle Wettersteinkalk lässt die steilen und glatten Wände der Berge unerklimmbar erscheinen. Die Aussicht ins Tal zum Forggen- und Hopfensee bleibt von weißer Watte verhüllt. Der schrille Pfiff eines Murmeltiers mahnt an den Aufbruch. Ganz gemütlich schlendern wir bergab zurück zur Füssener Hütte. Wer Sauna und Schwimmbad, dem kalten Wasser im Waschraum vorzieht, wer Disco und Fernsehen braucht, kommt niemals hierher. Dafür gibt es Natur in Hülle und Fülle.
Auf der Holzbank vor der Hütte genießen wir die letzten warmen Sonnenstrahlen. Langsam verschwindet die Sonne hinter den Bergen und taucht die hohen Gipfel in kitschiges Rosa. Schnell vorüberziehende Nebelschwaden hüllen die Berge und Bäume gespenstisch ein. Ein Gewitter zieht auf. Regen prasselt gegen die Scheiben. In der Stube ist es urgemütlich. Ein Zitterspieler spielt leise alte Lieder. In der Küche brutzeln Schnitzel in der großen Pfanne. Wolfgang, der Hüttenwirt, spendiert einen Schnaps und erzählen uns die Geschichte der Berghütte. Schon im Jahre 1059 wurde der obere Teil des Raintals in Tirol als „unordentlicher Besitz“ der Stadt Füssen von Kaiser Heinrich IV. erwähnt. Der spätere Kaiser Heinrich VII war knapp bei Kasse, musste aber seinen Krönungszug nach Rom finanzieren, so verpfändete er 1313 kurzer Hand das Hochtal. Erst im 19. Jahrhundert wurde eine Sennalpe (Sennerei) gebaut, die später als Jägerhütte der Gebirgsjäger genutzt wurde. Seit 1945 hat das Haus als Berghütte Wanderern und Erholungssuchenden Tür und Tor geöffnet.
Die Sonne lockt uns am dritten Tag schon früh aus den Federn. Gefrühstückt wird auf der Terrasse vor der Hütte. Bänke und Tische sind schon getrocknet von der Morgensonne, das Gewitter ist längst vergessen. Wir sitzen Auge in Auge mit der klotzigen Kellenspitze, die mit 2238 Metern der höchste Berg des Raintals ist. Der Autor Jörg Berghoff sagt in einem seiner Artikel: Im Volksmund hieß der Berg früher „Matzenoarsch“ (der verlängerte Rücken einer leichtlebigen Dame). Für Kaiserin Elisabeth, die dort wandern wollte, musste der anstößige Name angeblich schnell verändert werden und es entstand in Windeseile der Name Kellenspitze oder auch Köllenspitze. Der Berg ist eine Herausforderung für geübte Bergsteiger.
Auch andere Adlige wurden von diesem Tal magisch angezogen. Königin Maria von Bayern, die Mutter von Ludwig II, dem Märchenkönig, zog es auf den Achselkopf bei Musau, dem Tor zum Raintal. Sie war eine Naturschwärmerin und gründet den Alpenrosenorden. Aufgenommen wurde nur der, der mit ihr auf den Achselkopf wanderte.
Wir wollen es heute gemütlich und starten zu einer superleichten und kurzen Tour: zum Schartschrofen (1.973 m). Heiner aus Hamburg, total vom Wanderfieber infiziert, geht voraus. Der Anstieg ist leicht, in unzähligen Serpentinen über Wiesen und durch ein Bachbett gehen wir bis zum Hallerjoch. Zwölf Gämsen grasen auf den fetten Almwiesen und lassen sich durch uns nicht stören. Der Weg ist gut beschildert. Die letzten Meter gehen wir über Fels ohne Schwierigkeit bis zum Gipfelkreuz. Zitronenfalter und Kohlweißlinge begleiten uns beim Abstieg. Am frühen Nachmittag sind wir schon wieder zurück bei der Hütte und dösen auf der großen Wiese. Dabei beobachten wir Mountainbiker, die sich mit roten Köpfen und schweißgebadet die Forststrasse hocharbeiten. Die Radel-Outfits kleben am Körper, nur noch ein paar Tritte und sie haben die Hütte zum Energieauftanken erreicht. Die Forststrasse von der Bärenfalle bei Musau bis zu den drei Berghütten ist eine beliebte sportliche Kraftprobe für Biker.
Am nächsten Tag haben wir eine richtige Herausforderung, die Königsetappe, geplant. Nur für Geübte, sagt der Wanderführer, aber der Ehrgeiz ist geweckt. Ziel ist die Überschreitung der Roten Flüh. Aufbruch kurz nach acht Uhr. Im kühlen Schatten von Latschen und Kiefern wandern wir noch fröstelnd dahin. Ein Trampelpfad führt durch Bergwiesen bergauf bis zur Abzweigung direkt zu einem steilen und großen Geröllfeld. Der Aufstieg zur Gelben Scharte hat es in sich. Von Frösteln keine Spur mehr, der Pfad ist steil. Die hin und wieder mit roten Punkten bemalten Felsbrocken zeigen uns den Weg. Wir gehen langsam, immer wieder im Geröll zurückrutschend, durch die Schotterhalde bergauf. Am schmalen Grat lassen wir den Friedberger-Klettersteig rechts liegen. Wir erhaschen einen Tiefblick auf den tiefblauen Haldensee, eingebettet in sanfte Wiesenböden im Tannheimer Tal. Vom 15. bis ins 19. Jahrhundert führte die „Via Salina“, die Salzstraße von Hall in Tirol durch das Tannheimer Tal bis an den Bodensee. Pferdegespanne transportierten damals die schweren Salzfässer auf schmalen Pfaden. Die Nixen im See können uns nicht locken, wir wollen zum Gipfel. Jetzt wird es ernst. Einige Passagen sind mit Drahtseilen zum Festhalten gesichert. Auf Metallklammern, die wie eine Leiter in den Fels gehauen sind, überwinden wir ein kurzes, senkrechtes Stück im Fels. Die Abhänge sind schroff und steil. Wenn ich ins Tal schaue, bekomme ich weiche Knie. Also nicht nach unten sehen, am Fels oder der Sicherung fest halten und weiter kraxeln. Auch die letzten Meter zum Ziel sind noch stahlseil-gesichert, aber kein Problem mehr. Das Gipfelkreuz ist erreicht. Eine Verschnauf- und Trinkpause tut gut. Etliche Wanderer sitzen schon auf dem Gipfel und begrüßen uns. Obwohl die Rote Flüh der kleinste der großen Tannheimer Gipfel ist, lockt sie die meisten Gipfelstürmer an. Einen atemberaubenden Rundblick auf: das Raintal, das Tannheimer Tal und sogar bis zu den Gipfeln der Allgäuer Hochalpen, Hochvogel und Großer Wilder öffnet sich vor uns.
Am Gipfelkreuz warten die Dohlen, die sich frech auf die Schuhspitzen setzen, oder sogar im Flug, die Brotzeithappen aus der Hand stehlen, wenn man nicht schnell genug isst. Wir steigen durch das Gimpelkar abwärts und erreichen die gemütliche Tannheimer Hütte. Und der Magen knurrt auch schon. Wir sitzen unterm Sonnenschirm und erholen uns mit Marende: Brot mit Tiroler-Speck. Ein Höhenweg geleitet uns weiter durch Wiesen an Berghängen entlang. Ein letzter knackiger Aufstieg bis zum Sabachjoch. Nur die Glocken des Jungviehs unterbrechen die Stille der Natur. In Serpentinen geht es steil abwärts an einem Wasserfall vorbei bis zur Mausauer Alm (1267 m) für eine weitere Verschnaufpause. Nach einer knappen Stunde auf der Forststrasse erreichen wir wieder die Füssener Hütte. Die Etappe war lang, sechs Stunden reine Gehzeit liegen hinter uns. „Isches schi gweach’e ?“ fragt Wolfgang. Großartig war der Tag. Wir fühlen uns erschöpft und stolz wie alpine Jediritter.
Informationen
Anreise mit dem Auto und Seilbahn: von Grän im, Tannheimer Tal, mit der Kabinenbahn zum Füssener Jöchl (1818 Meter), quert bis zum Raintaljoch und dann geht es nur noch bergab bis zur Füssener Hütte. Großer Parkplatz an der Talstation. Liftanlage von Uhr 9.00 bis 16.30 geöffnet
Anreise mit dem Auto (Aufstieg ohne Seilbahn):
über Reutte bis Musau, oberhalb des Gasthofs Bärenfalle ist ein Parkplatz. Aufstieg auf einem breitem, gut beschilderten Forstweg, ca. zweieinhalb Stunden
Anreise mit dem Zug:
Bahnhof Musau, kein Bahnhofsgebäude, Aufstieg ca. drei Stunden, durch Wiesen, über die Achsel bis zum Forstweg der zur Hütte führt
Füssener Hütte, Wolfgang Wagner,
Telefon 0043-676-3423221
Geöffnet: Ostern bis Mitte Oktober
Otto-Mayr-Hütte, Kerstin und Thomas Grollmus,
Telefon 0043-5677-8457. Alpenvereinshütte.
Geöffnet Pfingsten bis Ende Oktober
Willi-Merkl-Hütte, Selbstversorger Hütte der Sektion Friedberg. Geöffnet: Pfingsten bis Ende Oktober
Voraussetzungen:
Für Geübte und für den blutigen Anfänger geeignete Wanderwege. Wolfgang, der Hüttenwirt kennt sich aus und berät gern bei der Tourenplanung.
Über den Autor*Innen
Gabi Dräger
Wo findet man Gabriele Dräger in den Bergen? Natürlich in einer Alm bei einer Brotzeit., denn Almen mit guter Küche ziehen sie magisch an. Gipfel nimmt sie auch hin und wieder mit. So hat sie einige 5.000er beim Trekking in Süd Amerika und Nepal, bestiegen. Ihre Hochleistung war der Kilimandscharo mit 5.895 Meter. Kultur und Brauchtum faszinieren sie genauso, wie Städte und Kunstausstellungen. Obwohl sie gerne in urigen Berghütten übernachtet ist sie dem Luxus von guten Hotels nicht abgeneigt.