Das Eis war schon immer da. Die riesigen weißen Berge treiben im Zeitlupentempo an der Küste entlang. Stille umgibt die Umgebung, nur hin und wieder unterbrochen von lautem Grollen, das kilometerweit über den Sermilik-Fjord hallt. Einem Donner gleich. Und zwar immer dann, wenn ein Stück eines Eisbergs abbricht oder er sich – aufgrund der Schmelze aus dem Gleichgewicht gekommen – um 180 Grad dreht. Oben wird nach unten herabgedrängt, die schneeweiße Spitze verschwindet im tiefblauen Meer und gibt die türkise, mit Wasser vollgesogene Unterseite preis.
Dieses Donnergrollen und das Sausen des Windes sind die einzigen Geräusche, die hier zu hören sind. Keine fremden Sprachen, kein Touristenlachen. Weder Wanderweg noch Trampelpfad haben sich in die Landschaft gefressen. Wer hier seinen Fuß vor den anderen setzt, hat das Gefühl, diese besondere Landschaft als erster zu betreten.
„Tunu“ – so nennen die Inuit Ostgrönland. Es bedeutet: „Die Rückseite des Landes“. Und wenn man dagegen das reiche, boomende Westgrönland mit seiner Hauptstadt Nuuk betrachtet, dann ist Tunu mit Sicherheit auch die Schattenseite Grönlands. Denn die Menschen hier sind arm, und das Leben hart auf der Grönländischen Insel Amassalik. Die größte Insel der Welt ist die meiste Zeit durch einen gigantischen Packeisgürtel isoliert, und nur in den wärmeren Monaten Juli und August können Versorgungsschiffe bis zum Land vordringen.
Doch wo Schatten ist, ist auch Licht: Dann wetteifert das strahlende Weiß des Inlandeises mit der bunten Pracht der arktischen Blumen. Diese nahezu unberührte Landschaft gilt es zu erkunden. 14 Tage geht es zu Fuß knapp 100 Kilometer entlang des Ammassalik-Fjordes, durch einsame Täler mit Blütenteppichen, steile Felsmassive oder barfuss durch kleine Gletscherflüsse.
Die Landung ist holprig auf der sandigen Landebahn des Flughafens auf der kleinen Insel Kulusuk. Zu Fuß geht es samt Rucksack zum Hafen und dort in offenen Motorbooten weiter über das Polarmeer, vorbei an Eisbergen und kleinen Schollen, bis nach eineinhalb Stunden die bunten Holzhäuser von Tasiilaq am Horizont aufleuchten. Rund 2000 Inuit zählt die regionale Hauptstadt.
Der Zeltplatz befindet sich direkt am Hafen mit grandiosem Blick auf den Fjord, und der Weg ins Zentrum führt vorbei an unzähligen Schlittenhunden mit ihren Welpen, die an der Kette untätig wohl auf den nächsten Winter und Bewegung warten. Erlegte Robben sind zum Kühlen im salzigen Wasser an Boote gebunden, und der aufgehängte Stockfisch trocknet an der bunten Hauswand.
Hier in Tasiilaq gilt es, den Proviant samt Küchenzelt, Gaskocher, Töpfen und Pfanne in Empfang zu nehmen, bevor es zum Ausgangspunkt der Wanderung geht: dem mit dem Motorboot vier Stunden entfernten Ort Tiniteqilaaq.
Der kleine Supermarkt im Jägerdorf ist gut besucht an diesem Nachmittag. Während draußen in der Bucht des 120 Einwohner zählenden Städtchens die Sonne erbarmungslos Schicht für Schicht vom stahlharten Panzer des Eisbergs zerfrisst, überlegt sich das kleine Inuit-Mädchen, ob sie lieber ein Twix oder ein Kitkat mit nach Hause nimmt. Weiter hinten hängen Robbenfelle zum Verkauf, daneben die Gewehre für die Jäger.
Hier gibt es auch noch Handyempfang und Strom. Dann steht die erste Wanderung an. Ziel ist ein Lagerplatz am Amitsivartiva-Fjord, und dazwischen liegen 400 Meter hohe Berge, Geröllhalden, ausgetrocknete Flussbetten und viele Steigungen. Das GPS-Gerät weist auf der neunstündigen Wanderung den Weg. Jeder Schritt muss gewählt sein, denn einen Wanderweg gibt es nicht. So gehören auch Sackgassen dazu, die zur Umkehr zwingen. Mühsam und kräftezehrend ist dieser Tag, doch werden die Strapazen immer wieder durch phantastische Aussichten belohnt. 21 Kilometer Wanderung mit 880 überwundenen Höhenmetern bescheren einerseits erste Schrammen, Erschöpfung und knurrende Mägen, andererseits aber bleibende Erinnerungen an eine einzigartige Landschaft.
Der heimische Fischer, der das schwere Equipment transportiert, ist schon lange am verabredeten Treffpunkt angekommen und wartet darauf, dass Zelte, Gepäck und Küchenutensilien an Land gebracht werden. Der Hunger ist groß, es frische ist 2 Grad kalt, und alle freuen sich auf heißen Tee und warmes Essen. Doch das muss erst gekocht werden. Weder Hotelzimmer noch Küche stehen bereit, kein Wasserhahn gibt das Wasser auf einfachem Weg her. So werden Schlaf- und Küchenzelte aufgebaut, Heringe in den steinigen Boden geschlagen. Das Kochteam schnippelt Zwiebeln und weicht das getrocknete Gemüse ein, während andere Wasser vom nahe gelegenen Gletscherfluss holen. Die Mücken kommen – und jeder, der ein Kopfnetz mit im Gepäck hat, ist um diesen Besitz dankbar. Um 21 Uhr ist es dann endlich soweit: Niemand hat wohl ein heißes Essen jemals so genossen. Es wird vor der Kulisse unzähliger Eisberge im Sonnenuntergang genossen. Ein mitgebrachter Whiskey, und keiner will in den Schlafsack kriechen. Jeder hängt den eigenen Gedanken nach. Es wird Mitternacht. Eine Taschenlampe ist überflüssig, denn im August bleibt es auch nachts immer hell. Zeit und der Rest der Welt spielen plötzlich keine Rolle mehr.
7 Uhr morgens: Es ist kuschlig im Schlafsack, die Glieder schmerzen. Die Sonne erwärmt das Zelt, und draußen riecht es nach Salami, Käse und Kaffee – das Küchenteam war schon fleißig.
Heute ist der Weg bunt: Die tiefen Täler bieten der arktischen Vegetation Schutz und lassen nicht nur die violette Nationalblume Grönlands, das arktische Weidenröschen, sondern auch das fleischblättrige gelbe Rosenrot, das pinkfarbene Läusekraut oder den hellgelben Mohn erblühen. Zudem sind Blau- und Krähenbeeren ein süßsaurer Leckerbissen für unterwegs. Nach 18 Kilometern ist das Ziel am Sermilik-Fjord erreicht. Hier tragen zahlreiche Eiskolosse jahrtausende altes Wasser mit sich und driften im Zeitlupentempo mit Ebbe und Flut am neu angelegten Zeltplatz vorbei. Es kehrt Routine ein: Die Zelte werden aufgebaut, das Klo wird geschaufelt, der Magen knurrt, die Muskeln schmerzen, Eisschollen werden für das Nudel- und Teewasser geschmolzen, und in der Zeltküche wird gekocht.
So vergeht ein Tag nach dem anderen. Die Wanderungen durch unberührte Landschaften, vorbei an Gletschern und hohen schneebedeckten Bergen bieten jeden Tag ein neues Naturschauspiel. Immer im Gepäck: das Gewehr. Denn immer öfter verirren sich Eisbären in dieses Gebiet. „Durch die Klimaveränderung finden sie im Norden Grönland nicht mehr genug Nahrung – und suchen Futter weiter im Süden“, erklärt Robert Peroni, Extrembergsteiger, Bergführer und Abenteurer, der von Südtirol nach Tasiilaq zog und dort seit den 1990er Jahren das Hotel „Rotes Haus“ betreibt. Doch auf unserer Tour treffen wir keinen Nanoq an, wie der Ursus Maritimus bei den Inuit genannt wird. Es wird lediglich erzählt, dass eine Eisbärin mit ihren Jungen ein paar Kilometer weiter ein leeres Zelt aufgeschlitzt und nach Fressbarem gesucht hat.
Peroni rät unbedingt zu einer Fahrt zum Inlandeis: Es überzieht das ganze Landesinnere und ist mit einer Fläche von 1,8 Millionen Quadratkilometern fast fünfmal so groß wie Deutschland. Aber nicht nur wegen seiner gigantischen Ausdehnung fasziniert der arktische Eisschild, sondern auch wegen seiner enormen Dicke: An der dicksten Stelle misst er bis zu 3600 Meter. Per Motorboot geht es hinüber nach Nagtivit, und dann Schritt für Schritt aufs Eis. Die harsche Schicht knirscht unter den Füßen – ein merkwürdiges Gefühl zu wissen, dass der Untergrund in Bewegung ist, Spalten und Ritzen auftut. Unterirdisches Schmelzwasser ist zu hören, sonst nichts. Weiß in allen Facetten bis zum Horizont.
Fazit: Wer sich vor nicht scheut, auf Komfort und hochsommerliche Temperaturen zu verzichten, wird mit eisigen, ursprünglichen und einsamen Eindrücken und Erinnerungen und einer wirklichen Entschleunigung belohnt. Eine perfekte Auszeit vom stressigen Alltag, in der Zeit immer knapper und das Leben immer schneller wird.
Anreise: Air Iceland fliegt täglich im Sommer vom isländischen Stadtflughafen Reykjavik nach Kulusk. Weitere Infos auch zu Unterkünften unter www.eastgreenland.com oder www.the-red-house.com. Trekkingtouren buchbar unter anderem über www.wikinger-reisen.de.
Über den Autor*Innen
Christiane Flechtner
Christiane Flechtner, geboren 1972 in Münster und aufgewachsen auf der Nordseeinsel Norderney, hat ihren Lebensmittelpunkt heute in Berlin. Hier war die freie Journalistin und Fotografin viele Jahre als Chefredakteurin der Wochenzeitung "Der Nord-Berliner“ tätig. Doch auch im Ausland ist sie viel unterwegs, angefangen vor allem in Afrika, aber auch in Asien und Europa war sie unterwegs und hat Reportagen über Tier, Mensch und Natur mitgebracht - und das über und unter Wasser. Ihre Hobbys: Reisen, Laufen, Tauchen, Wandern und Fotografieren.