Die meisten Touristen, die den Rheingau besuchen, schlendern durch die Orte direkt am Rhein, vor allem Eltville, Walluf und Rüdesheim. Doch es gibt eine äußerst attraktive Alternative, vor allem im Sommer an heißen Tagen. Dann bietet es sich an, parallel zum Rhein weiter oben zu wandern in 150 bis 200 Meter Höhe, teilweise durch die Parzellen der Winzer und schattige Waldwege. Überwiegend haben die Wanderer dabei eine tolle Aussicht auf den Rhein und auf die andere Flussseite mit Mainz und Ingelheim.
Idylle pur, Vertrauen pur
Start dieser zwölf Kilometer langen Wanderung ist der Wiesbadener Stadtteil Frauenstein, das sogenannte Tor zum Rheingau. Hier scheint die Welt noch in Ordnung. An einem Sonntag im Mai hat der Blumenladen zwar geschlossen, doch Blumen, Pflanzen und Zubehör stehen auf dem Gehweg mit dem Hinweis, dass Besucher alles mitnehmen können und das Geld in eine Kasse werfen mögen. In Frauenstein leben die gut 2.000 Einwohner beschaulich und gut, vor allem vom Weinbau.
Streit hat auch etwas Positives
So alt wie die Burg Frauenstein, möglicherweise sogar älter, ist der Frauensteiner Weinbau. Etwa um 1300 verkaufte Siegfried IV. von Frauenstein seine Burg mit Grundbesitz und Hörigen an den Erzbischof von Mainz, der strategisch günstig damit eine Flankensicherung für den Rheingau errang. Frauenstein wurde so allerdings auch für Jahrhunderte Anlass für Streitigkeiten zwischen Kurmainz und den jeweiligen Grafen von Nassau, die mit Argusaugen darüber wachten, dass sich Frauenstein nicht vergrößert. Ihnen dienten die nassauischen Höfe ringsum als Blockade für die Erweiterung des Ortes. So blieb er klein und beschaulich. In den gut erhaltenen Fachwerkhäusern wohnten damals Adelsfamilien. Erst 1808 wurde die Leibeigenschaft aufgehoben und 1871 die Zehntablösung beendet. Vor fast 100 Jahren, 1928 wurde Frauenstein nach Wiesbaden eingemeindet.
Der Rheinsteig weist den Weg
Von Frauenstein aus führt die Strecke bergan nach Martinsthal. Die Rheinsteig-Schilder weisen den Weg. Die dokumentiere Geschichte von Martinsthal reicht bis ins 13. Jahrhundert zurück. Bis 1935 hieß die Besiedlung Neudorf. Der Mainzer Erzbischof legte damals zum Schutz der Rheingauer Bürger einen dichten Heckenwall, das sogenannte „Gebück“, an. Mit dem Anreiz auf ein Ende von Fronarbeit, Steuerbefreiung und Ende der Leibeigenschaft wurden Bewohner auf der Mainzer Seite in den Rheingau gelockt. Dörfer jenseits des Schutzwalles wurden aufgelöst und einige Martinsthal zugewiesen. Das führte zwei Jahrhunderte lang zu einer florierenden Entwicklung des Gebücks. Doch die Bauernkriege 1525 und der 30jährige Krieg zerstörten vieles. Den Schweden gelang es 1631, die östliche Bastion des Gebücks zu erobern und von hier aus den Rheingau in ihre Gewalt zu bringen. Pest und Seuchen rafften so viele Menschen dahin, dass der Ort im Jahre 1671 nur noch 59 Häuser mit 130 Seelen zählte. Nach dem ersten Weltkrieg, 1935, besann man sich auf den ursprünglichen Ortsnamen Martinsthal, benannt nach dem Schutzpatron des Mainzer Erzbistums.
Martinsthaler Wildsau
Im Rahmen der Gebietsreform wurde Martinsthal 1977 gemeinsam mit den Orten Rauenthal, Erbach und Hattenheim der Stadt Eltville zugeschlagen. In Martinsthal sind namhafte Weingüter beheimatet, darunter Diefenhardt und Keßler. Ihre Reben gedeihen auf den sanften Hügeln rund um das Dorf, dessen Lage Martinsthaler Wildsau die bekannteste ist. Das Denkmal der Wildsau ist ein beliebtes Fotomotiv. Sehenswert sind auch die St. Martin-Kirche und St. Sebastianus und Laurentius in der Ortsmitte, umringt von Gutshäusern. Der Wein- und Schlemmerstand schenkt unter anderem auch die Martinsthaler Wildsau vom Weingut Hirt Gebhart aus. Er ist in zwei Geschmacksrichtungen erhältlich: Trocken oder mild.
Modebewusste Rauenthaler
Eine Skulptur am Brunnen des Marktplatzes erinnert an die stolzen Martinsthaler Weinbauern. Sie gingen – so die Jahrhunderte alte Erzählung – früher perfekt geschniegelt mit Stehkragen in die Weinberge, das Arbeitsgerät geschultert und ausgerüstet mit Verpflegung und einem guten Schoppen in der Hand. Während der Feldarbeit hängten sie ihren Stehkragen an einen Pflock und kehrten nach getaner Arbeit wieder perfekt gekleidet ins Dorf zurück. Apropos Schoppen: So nennen die Einheimischen Wein.
Alles Spitze in Rauenthal
Rauenthal ist mit 255 Meter der höchstgelegene Weinbauort im Rheingau. Die 1.800 Einwohner wurden 1977 zu Eltville eingegliedert und die glücklichen Rauenthaler schauen bildlich gesprochen auf die Sekt-, Wein- und Rosenstadt runter. Der markante Wehrturm der Pfarrkirche St. Antonius Eremita ist schon aus der Ferne zu sehen. Diese katholische Kirche wurde im 15. Jahrhundert gebaut. Vorher gab es an derselben Stelle bereits eine Kapelle. Die aus Lindenholz geschnitzte Madonna mit der Traube stammt aus der Erbauungszeit der Kirche.
Schöner Wohnen mit den Nonnen
Der Wanderweg von Frauenstein zum Kloster Eberbach führt unterhalb der spätklassizistischen Villa, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Sommer- und Weinberghaus für vermögende Rheingauer Familien gebaut wurde, auf der Spitze der Hanglage Nonnenberg vorbei. Der Name ist Programm: Hier lebten einst Nonnen des nahen Klosters Tiefenthal, die den Weinberg und das Gebäude bewirtschafteten. Mit diesem Ausblick Gottes Werk zu verrichten, muss traumhaft sein. Das Weingut Georg Breuer ist Alleinbesitzer der Einzellage Rauenthaler Nonnenberg. Auf den steilen, nach Süden ausgerichteten Hängen wird ausschließlich Riesling angebaut. Die Nonnenberg-Weine zeichnen sich durch kräftige, mit feinen, zum Teil exotisch anmutenden Aromen aus. Und durch üppige Preise. Der 2022er Jahrgang ist trotz stolzer 88 Euro pro Flasche ausverkauft.
Rauenthaler Weinprobierstand
Weiter geht es auf dem Höhenweg von Martinsthal bis zum Weinprobierstand an der Bubenhäuser Höhe garantiert, nur fünf Gehminuten vom Rauenthaler Ortskern entfernt. Hier genießt man eine herrliche Aussicht auf Rhein und Rheingau. Jede Woche von Ende März bis Ende Oktober schenkt ein anderer Winzer aus dem Ort seine Weine aus. Wie an vielen anderen solcher Weinstände im Rheingau ist es auch hier erlaubt, sein eigenes Essen zu verzehren und sich am Stand kühlen Weißwein zu holen. Einige Winzer im Rheingau bauen auch Rotwein an, vor allem Spätburgunder und Pinot Noir. Die Preise sind durch die Bank moderat. Je nach Sorte und Qualität werden für 0,2 Liter drei bis fünf Euro verlangt – und meist wird großzügig eingeschenkt.
Pfiffige Kiedricher
Ein wahres Marketinggenie war der Bürgermeister von Kiedrich, Siegfried Siems. Er hatte die Idee, die weltweit einzigartig ist, dass jedes Ehepaar, das in dem über 400 Jahre alten Rathaus standesamtlich die Ehe schließt, einen Weinstock aus dem Weinberg der Ehe erhält. Den ließ der umtriebige Bürgermeister 1975 anlegen. Das Geschäft mit dem Bund der Ehe floriert. Im über 1000-jährigen gotischen Weindorf Kiedrich wurden schon über 3.000 Ehen geschlossen. Die Neuvermählten erhalten eine Besitzurkunde über ihre Rebe im Weinberg der Ehe. In der Urkunde ist nicht nur der Sinn des Weinbergs beschrieben, sondern auch die Nummer des Weinstocks angegeben, der im Weinberg angepflanzt worden ist. Regelmäßig werden alle Ehepaare zu einem Treffen anlässlich des Kiedricher Rieslingfestes eingeladen. Und so kommen viele Paare aus aller Welt zu ihrem Weinstock und tauschen Erinnerungen aus und trinken Wein vom Weinberg der Ehe. Der für Kiedrich typische Riesling, Einzellage Wasseros, wird mit einem eigenen Flaschenetikett von der Gemeinde verwaltet. Aufgrund der großen Nachfrage von Hochzeitspaaren wurde im Rahmen eines Flurbereinigungsverfahrens die Fläche auf 8.500 Quadratmeter erweitert.
Weinprobierstand am Fuße des Weinbergs der Ehe
Mit Blick auf den Weinberg der Ehe und die Burg Scharfenstein sitzen die Gäste des Kiedricher Weinprobierstands im Grünen. Auch hier wechseln sich die Winzer wöchentlich ab, wer seinen Wein ausschenken darf. Besonders empfehlenswert sind die Weine von Speicher-Schuth, Hans Prinz und „Zum Bur“. Gleich oberhalb des Weinprobierstandes liegt das Topweingut von Kiedrich, Robert Weil, der für seine prämierten, hochpreisigen Rieslinge auch Abnehmer in Asien hat.
Im Namen der Rose
Der Weg führt an der wunderschönen Basilika St. Valentin in der Ortsmitte von Kiedrich vorbei, dann geht es stets leicht bergan durch Weinberge in den Laubwald bis zum Kloster Eberbach. Es gilt als eines der eindrucksvollsten Denkmäler mittelalterlicher Klosterbaukunst in ganz Europa. Zurecht. Die weitläufige Anlage, 1136 von Bernhard von Clairvaux gegründet, dürfte vielen bekannt sein, obwohl sie noch nie da waren. In dem Kloster mit seinen romanischen und frühgotischen Innenräumen wurde auch für Filmaufnahmen von Umberto Ecos "Der Name der Rose" verwendet. Doch seine eigentliche Weltgeltung verdankt Eberbach den Mönchen, die den Weinbau über 700 Jahre kultivierten. Im Mittelalter betrieb Kloster Eberbach das florierendste Weinhandelsunternehmen weltweit. Bis heute zeugen die zwölf historischen Weinpressen im Laienrefektorium von den enormen Erträgen der klösterlichen Anbaugebiete. Das Abteimuseum informiert den Besucher ausführlich über die Geschichte der Abtei und den Zisterzienserorden.
Pilgerstätte für Weinliebhaber
Bis 1988 gehörte das Klostergelände dem Land Hessen. Dann wurde es in die Stiftung Kloster Eberbach übertragen. Das Kloster Eberbach ist eine Pilgerstätte von Weinliebhabern. Die ortsansässige Weinbruderschaft „Rheingauer Weinkonvent“ widmet sich der Verbreitung des Wissens um den Wein; Kellerproben im Cabinet- oder Hospitalkeller werden von der Stiftung Kloster Eberbach angeboten, außerdem finden festliche Weinproben im barocken Refektorium oder im Laiendormitorium aus dem frühen 13. Jahrhundert statt. In der Vinothek und Weinbar 1136 können die Weine des Klosters gekauft und dann im wunderschönen Klostergarten genossen werden. Es gibt mehr als zehn unterschiedliche Gruppenführungen durch das Kloster inklusive Weinprobe und auch individuelle Führungen. Wer sich wundert, warum auch Weine von der Hessischen Bergstraße ausgeschenkt werden: Das Kloster Eberbach ist Deutschlands größtes Weingut mit 238 Hektar Anbaufläche und bewirtschaftet auch dort Weinberge.
Über den Autor*Innen
Thomas Rentschler
Thomas Rentschler ist im Schwarzwald aufgewachsen und hat nach einer kaufmännischen Ausbildung bei einer Nachrichtenagentur und auf der Akademie für Publizistik in Hamburg das journalistische Handwerkszeug erlernt und anschließend sowohl als festangestellter Reporter und Redakteur sowie freier Mitarbeiter unter anderem für die Nachrichtenagentur dpa, Zeitungen (Financial Times Deutschland, taz, WAZ, Welt am Sonntag), Zeitschriften (Focus, MAX, Wirtschaftswoche), Hörfunk (Deutschlandfunk, Korean Broadcasting System, NDR, Radio Zürisee, WDR) und TV (MDR) im In- und Ausland (Schweiz, Spanien u