Mit Eselsgeduld bergauf-bergab

Mit Eselsgeduld bergauf-bergab - der „Chemin Stevenson“ gilt als einer der schönsten Fernwanderwege Frankreichs - (c) Klaus Pfenning

Vor nahezu 150 Jahren wanderte der schottische Schriftsteller Robert Louis Stevenson zusammen mit einem Esel durch die Cevennen. Heute gilt der „Chemin Stevenson“ als einer der schönsten Fernwanderwege Frankreichs.

Auf dem Weg nach Le Pont de Montvert schüttet es wie aus Kübeln. Kein Einzelfall, wie uns Romain aus der Bar aux Cevennes später erzählt. Wenn der Südwind die von der Feuchtigkeit des Mittelmeers vollgesogenen Wolken nach Norden treibt, treffen sie mit den Cevennen auf ihr erstes ernstzunehmendes Hindernis – und regnen ab. Ähnliche Erfahrungen machte auch der schottische Schriftsteller Robert Louis Stevenson im Frühherbst des Jahres 1878, als er auf die – für damalige Zeiten – reichlich spleenige Idee kam, zu Fuß und in Begleitung eines Esels das Gebirge von Nord nach Süd zu durchqueren. Immer wieder nässte es den Autor des Abenteuerromans „Die Schatzinsel“ und des Psychothrillers „Der seltsame Fall des Dr. Jeckyll und des Mr. Hyde“ ein. Ausführlich beschrieb er seinen Trip später in seinem kurzweiligen Büchlein „Reise mit dem Esel durch die Cevennen“.

Stevenson trat diese Reise an, um auf andere Gedanken zu kommen als die an seine Geliebte Fanny Osbourne, die in Amerika ihre Scheidung vorantreiben wollte. Der Stevensonweg, im französischen System der Fernwanderwege heute als „Grande Randonée (GR) 70“ bezeichnet, durchquert einige der einsamsten Regionen Frankreichs.

Das Département Lozère ist mit gerade einmal 15 Einwohnern pro Quadratkilometer das am schwächsten besiedelte in ganz Frankreich. Warum Stevenson als Startort ausgerechnet das abgelegene, heute kaum 2.000 Einwohner zählende Monastier sur Gazeille wählte, verrät er in seinem Buch nicht. Die meisten Fernwanderer starten jedoch der leichteren Anreise wegen eine Etappe früher in Le Puy. Der denkmalgeschützte Ort mit seinen steilen, kopfsteingepflasterten Gassen ist seit dem frühen Mittelalter einer der bedeutendsten Orte für Pilger auf dem Weg nach Santiago de Compostela. Die im byzantinischen Stil gebaute Kathedrale ist UNESCO-Weltkulturerbe. Auf dem Jakobsweg läuft man jedoch nicht, die Routen trennen sich vom ersten Meter an.

Le Puy liegt im Velay, einer aus Vulkanen entstandenen Landschaft. Ein früherer Krater reiht sich an den nächsten, eine grüne Hügelkette an die andere. Der Begriff „lieblich“ passt selten so gut wie hier. Anfangs begleiten unzählige Steinkreuze den Weg – frühere Anker in einer gottverlassen geglaubten und vielleicht gerade deswegen von tiefer Religiösität durchdrungenen Welt. Allgegenwärtig ist hier aber auch die Landflucht. Beispiel Goudet am Oberlauf der Loire. Wo im 19. Jahrhundert noch 600 Menschen lebten, sind es heute nur noch 60. Wer Einsamkeit und Stille sucht, der wird den Stevenson-Weg lieben. Wer nicht, der kann an ihm verzweifeln. Häufig läuft es sich in völliger Einsamkeit auf welligen Hochebenen durch ein nicht enden wollendes Grün. Im Frühsommer umgeben weiße Schafgarben, roter Klatschmohn, gelber Ginster und ein Meer von blauen Zottigen Wicken den Weg wie ein farbiges Band. Oberhalb von tausend Metern gesellt sich der hüfthohe Gelbe Enzian dazu, aus dessen Wurzeln ein gelblicher, bitterer Aperitiv gewonnen wird.

Unterbrochen werden die Hochebenen durch tief eingeschnittene Täler. Die meist ebenso steilen wie steinigen Wege erfordern Kondition hinauf und Konzentration hinab. In der Wanderführern werden sie als Maultierpfade bezeichnet – Esel wie Stevensons Modestine dürften ihre helle Freude an ihnen haben. Allerdings sieht man sie unterwegs nur noch selten. „Es sind nicht mehr viele Wanderer mit Esel unterwegs“, sagt die Wirtin einer Bar irgendwo im Nirgendwo. In der vergangenen Woche habe sie gerade mal einen gesehen. „Die Menschen haben gemerkt, dass Wandern mit einem Esel ganz schön umständlich und anstrengend sein kann.“ Das Tier und nicht der Mensch gibt das Tempo, den Rhythmus und die Pausen vor. Unseren ersten und auch einzigen Esel treffen wir bei Kilometer 50, ein Männchen mit dem Namen Nougat. Ein paar Tage lang treffen, besser: überholen wir ihn immer wieder. Vor allem dann, wenn Nougat man wieder Päuschen machen will. Aber selbst ohne Esel entschleunigt der Stevensonweg vom ersten Meter an.

Mitten im Nichts liegt auch das abgelegene, reaktivierte Zisterzienserkloster Notre Dame de Neige bei Bastide-St. Laurent. Robert Louis Stevenson verbrachte dort mehrere Tage, um das Leben der Mönche zu studieren. Noch heute bietet das Kloster auf Spendenbasis einfache Zimmer mit ebenso einfachem Essen an. Kulinarische Höhenflüge darf man hier nicht erwarten. Buchstäblicher Höhepunkt der gut 200 Kilometer langen Fernwanderung ist die Überschreitung des Mont Lozère, dem höchsten Berg der Cevennen. 1.699 Meter hoch ist er mehr eine sanft ansteigende, riesige baumfreie Granitkuppe als ein wirklicher Gipfel. Der Granit findet sich hier überall: wenn anderswo Markierungen oder Steinmännchen den Weg weisen, sind es hier übermannsgroße Granitstelen. Nach dem Gipfel geht es hinunter an den Tarn nach Le Pont de Montvert, dem schönsten Ort auf der ganzen Strecke.

Zwei Gehstunden später neigt sich die Zeit der kahlen Berge und der weiten Blicke dem Ende. In den folgenden Tagen bestimmt der Wald den Weg, auf Betonwegen, Forststraßen, Asphaltsträßchen und verwunschenen Pfaden. Hinter Florac schwingt er sich nur noch einmal knapp über die Tausendmeterlinie. In großen Wellen geht es nach Osten, hinunter in Richtung Rhone. Besiedlung? So gut wie nicht vorhanden. Auf den 50 Kilometern bis St. Jean du Gard verlieren sich in winzigen Dörfern, Weilern und einzelnen Gehöften insgesamt keine tausend Menschen. 

Anstatt über Berge und Gipfel führt der Stevenson-Weg entlang von Bächen und Flanken, fünf Kilometer folgt er einer längst aufgegebenen Bahnlinie. Unterkünfte sind hier noch seltener als bei anderen Etappen, hin und wieder liegen sie abseits des Wegs. Eine gute Planung ist unerlässlich. Wer Zelt und Schlafsack mitschleppt, der trägt schwerer und hat es dennoch leichter zugleich. Wer es dagegen auch mal luxuriös mag, der übernachtet im Château de Cambriaire in St. Etienne Vallée Francaise. Das alte Gemäuer oberhalb des Dorfs stammt aus dem 14. Jahrhundert und war heruntergekommen. Das jetzige Besitzerpaar hat dem Automobilhandel und der Modebranche den Rücken gekehrt und mit viel Liebe zum Detail das Schloss mit seinen fünf Gästezimmern und drei Appartements höchst stilvoll wieder Leben eingehaucht.

Zunehmend weicht die Frische der Berge mediterraner Wärme. St. Jean du Gard empfängt den Wanderer als beschauliches und dennoch lebendiges Örtchen. Nach Tagen mehr oder weniger großer Einsamkeit ist dies wohltuend und verstörend zugleich. Touristen trägen hier eher Badelatschen statt Wanderschuhe. Stevenson und seine treue Begleiterin Modestine beendeten hier ihre abenteuerliche Reise. Wir tun es dem Schriftsteller gleich, bei einer wunderbar gebratenen Forelle, bei süßen, mit Steinpilzen gefüllten Zwiebeln, bei gerösteten Feigen mit Honig. Und natürlich einer Flasche gut gekühltem Rosé. Santé Robert Louis, prost Modestine!

Gut zu wissen
Unterkunft
Le Puy: Maison au Loup, charmantes Privatquartier in einem ehemaligen Kloster nahe der Kathedrale
St. Jean du Gard: L’Orange, typisch französisches Familienhotel mit guter Küche

Eine vorherige Planung der Quartiere ist aufgrund der dünnen Besiedlung unbedingt erforderlich. Gute Tipps hierfür gibt der Outdoor-Wanderführer „Cevennen Stevenson-Weg GR 70“

Über den Autor*Innen

Klaus Pfenning

Klaus Pfenning fuhr schon mit dem Fahrrad in den Kindergarten und durchstreifte mit seinen Eltern die Berge, vorzugsweise den Odenwald und Tirol. Ein Urlaub ohne Satteltasche oder Rucksack ist für ihn bis heute nur schwer vorstellbar. Als „Very Best Ager“ paart er seine Ausflüge in die Natur mittlerweile am liebsten mit „was G’scheits auf dem Teller und im Glas“.

Als begeisterter Alpinskifahrer hat er vor einigen Jahren seine Liebe auch zum Skilanglauf entdeckt. Und dabei die Erfahrung gemacht, dass diese Form der Bewegung viel anstrengender und schweißtreibender sein kann.