‚Mutig aber tot‘ von Irmgard Braun

‚Mutig aber tot‘ von Irmgard Braun - Mord am Grödnerjoch (Dolomiten-Krimi) - (c) Rother Bergverlag

 

 

Mord am Grödnerjoch (Dolomiten-Krimi)

Acht Mitglieder einer Alpenvereinsgruppe fahren ins Kletterparadies Dolomiten. Einer stirbt in der Wand. Im gemeinsamen Ferienhaus kochen die Gefühle hoch. Wer hat den berühmten Erstbegeher auf dem Gewissen? Clara hält ihre Schwester für unschuldig. Mit Mut und scharfem Verstand verfolgt sie die Spur des Mörders – und setzt dabei ihr eigenes Leben aufs Spiel.

Rother Bergkrimi
1. Auflage 2015
208 Seiten Format 13,5 x 20,5 cm
kartoniert
EAN 9783763370702
ISBN 978-3-7633-7070-2
12,90 Euro [D] • 13,30 Euro [A] • 16,90 SFr
Alle Preisangaben inkl. ges. MwSt.

Leseprobe

Es war früh am Morgen und noch duster; das Dach der Hütte hob sich kaum von einem dunklen Waldstreifen ab, und dahinter wuchs die Mauer der Tofana di Rozes empor, eine ungegliederte Masse, in Schatten getaucht und tiefschwarz. Nur die Gipfelwand strahlte im düsteren Rot glühender Kohlen und das Stück Himmel darüber war von nachtdunklem Blau.

Es sah aus wie bei einem Fantasy-Film vor dem Beginn einer großen Schlacht.

Kuni schluckte. Sollte er seinem Vater sagen, dass er lieber eine Route an einem Berg machen würde, der nicht so groß war? Er würde zumindest zum Einstieg gehen, oft sah eine Wand von Nahem nicht mehr so bedrückend aus, und durch die Bewegung beim Anmarsch würde er sich bald besser fühlen.

Sein Vater schaute ihn an. „Alles klar?“

„Alles klar.“

Sie marschierten los, auf einem breiten Weg, dessen Verlauf durch den hellen Sand trotz des Dämmerlichts deutlich erkennbar war. Beim Gehen knirschte es, die Karabiner klimperten, und der am Klettergurt angehängte Helm schlug rhythmisch gegen Kunis Oberschenkel.

Während sie auf die Wand zuhielten, floss das Rot vom Gipfel wie ein Lavastrom abwärts und ließ mächtige Felspfeiler aufleuchten, die durch schwarze Schluchten voneinander getrennt waren.

***
Kuni beobachtete seinen Vater, der sich in der Verschneidung nach oben schob. Wie war er nur auf die Idee gekommen, sein Sohn würde vorsteigen? Es war doch selbstverständlich, dass Papa als der Ältere, Erfahrenere das übernahm.

„Nachkommen!“

Kuni arbeitete sich an einer Schuppe empor, die sich kalt und glitschig anfühlte. Zum Glück kam das Seil straff von oben. Er rampfte, kämpfte, angelte einen tief in einer Spalte sitzenden Klemmkeil heraus und schürfte sich den Hand rücken auf. Als er seinen Vater erreichte, schwitzte er; er zog seine Jacke aus und steckte sie in den Rucksack.

Papa grinste. „Gar nicht so leicht, was?“

„Geht schon. Ich musste erst mal warm werden.“

„Na dann los.“

Die Wandfläche über Kuni sah dunkelgrau und glatt aus wie Beton. Keile konnte man erst in dem Riss da oben legen. Wenn er vorher abrutschte ...

Kunis Mund war trocken, seine Glieder fühlten sich an wie aufgeweicht. Verdammt. Er wollte da nicht hoch. Aber wenn er jetzt einen Rückzieher machte – was würde sein Vater von ihm denken?

Vielleicht ging es doch irgendwie. Die Platte war mit Fünf plus angegeben, im Klettergarten war das für Kuni ein Kinderspiel.

Er atmete tief durch und machte einen Schritt in die Wand. Er fand kleine Griffkerben, setzte die Fußsohlen auf die schiefe Ebene – seine Beine zitterten, bloß nicht abrutschen! Puh. Der Riss. Da ging ein guter Klemmkeil rein. Queren, noch mehr Sicherungen legen. Der Standplatz – krumme Haken, ein Gewirr von Schlingen. Kuni hatte es geschafft!

Seine Brust weitete sich vor Stolz. Er würde diese Riesenwand zusammen mit seinem Vater durchsteigen, er war ein richtiger Bergsteiger, genau wie Papa!

***

Norbert und Kuni wechselten sich in der Führung ab. Der lange Riss, der sich durch den unteren Teil der Wand zog, bot gute Möglichkeiten für Klemmkeile und Friends. Norbert hielt sich hemmungslos daran fest, wenn sein Sohn es nicht sehen konnte. Er musste Kraft sparen. Seine Arme waren lahm, und in seinen Schultern ziepte es, als er das Band erreichte, das den plattigen Teil des Pfeilers von dem überhängenden gelben Gemäuer darüber abtrennte.

„Machen wir eine Pause.“

Norbert ließ sich nieder, nahm den Rucksack von der Schulter, holte die Flasche mit Elektrolytgetränk heraus und trank. Das Zeug rann eiskalt durch die Kehle und schmeckte wie Mottenkugeln mit Süßstoff.

Norbert hatte überhaupt keine Lust darauf, weiterzuklettern. Inzwischen war er sich nicht mehr sicher, ob er die Dächer bewältigen konnte.

„Wie geht es dir, Kuni?“

Ein Handrücken seines Sohnes war blutverkrustet, er war käsebleich.

Norbert wies nach rechts. „Wenn wir auf dem Band ein Stück queren, können wir problemlos abseilen. Weiter oben in der Wand geht das kaum noch. Möchtest du lieber umdrehen?“

***

Nichts wäre Kuni lieber gewesen. Er fühlte sich völlig zerschlagen von der kraftraubenden Risskletterei, bei der er ständig Angst gehabt hatte zu stürzen und die von ihm gelegten Klemmkeile herauszureißen.

Er kaute auf einem Riegel herum. Er war glashart von der Kälte der letzten Nacht.

Papa wäre bestimmt enttäuscht, wenn er jetzt umdrehen musste, weil sein Sohn schlappmachte. Und er würde kein zweites Mal mit ihm auf Tour gehen.

Kuni schluckte das Stück Riegel hinunter. „Ich bin okay. Alles bestens.“

Sein Vater zeigte hinauf zu der gelben Wand, aus der ein Dach herauskragte. „Da oben sieht es schlecht aus mit Klemmkeilen. Wahrscheinlich ist es besser, so viel wie möglich technisch zu klettern, sonst gibt es einen Reißverschluss.“

„Was – was meinst du damit?“

„Wenn du über einer alten Rostgurke fliegst und sie he­rausrupfst, wird die Sturzenergie so groß, dass die anderen miesen Haken darunter auch noch der Reihe nach herauskommen. Das dürfen wir auf keinen Fall riskieren.“

***

Das war das richtige Stichwort. Kuni hielt sich an allem fest, was die Vorgänger in der Wand gelassen hatten, aber das technische Klettern war manchmal gar nicht so einfach. Beim Nachstieg im ersten Dach verstrickte er sich in einem schaukelnden Wirrwarr aus Schlingen und Karabinern. Das zweite Dach war noch schlimmer. Kuni zerrte, zappelte, alle Glieder krampften, er stöhnte, schluchzte, ruderte mit Armen und Beinen. Als er am Standplatz ankam, hätte er sich beinahe übergeben. Er hängte sich am Haken fest, setzte sich auf das bequeme Band und pumpte wie ein Maikäfer. Dabei fühlte er sich, als hätte ihn jemand mit einem Hammer verprügelt.

Allmählich kam er wieder zu Atem. „Guter Fight, Papa.“

Der nickte ihm zu und reichte ihm ein Bündel Klemmkeile. „Viel Glück. Die nächste Seillänge ist nicht ganz leicht.“

Kuni blickte zu dem schwarzen Schlund über ihm empor, der unten breit war und nach oben hin schmaler wurde: der „Mulirücken“. Vielleicht hieß dieser Kamin so, weil der Fels einen dort abwarf wie ein bockendes Muli.

Kunis Arme waren schlapp wie nasse Lappen. „Ich glaube, es ist besser, wenn du das machst, Papa. Kamine sind nicht gerade meine Stärke.“

„Na komm schon! Mit Hakenhilfe ist das höchstens ein Sechser. Hast dich doch bisher wacker geschlagen.“

Kuni schüttelte stumm den Kopf. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Er wandte sich schnell ab.

***

Der Junge war fertig. Und dabei hatte Norbert gehofft, er würde dieses widerliche Kaminmonster übernehmen. Ihm grauste davor. Noch nie hatte er sich in einer Wand derartig schwach gefühlt.

Wäre es besser abzuseilen? In der überhängenden Wand mit den schlechten Haken wäre das ein kompliziertes und gefährliches Unternehmen. Und mit welcher Begründung sollte er das tun? Was würde sein Sohn von ihm denken, wenn er zugab, dass er sich vor einem Sechser fürchtete?

Er musste da durch, egal wie.

Norbert unterdrückte ein Ächzen und kletterte los.

In dem Loch herrschte dämmriges Licht. Die Wände schimmerten grünlich, der Fels fühlte sich schleimig an. Stellenweise war er mit Algen und Moos überzogen, trotz des Prachtwetters in letzter Zeit. Vielleicht hatte sich wegen der kalten Nächte Kondenswasser gebildet.

Die Haken waren zu weit auseinander, um alles technisch zu klettern. Norbert musste sich in der finsteren, wie mit Schmierseife ausgekleideten Röhre mit Händen und Füßen auf Gegendruck emporarbeiten. Bei jeder Bewegung war er knapp daran, abzuglitschen, die Haken taugten nichts, er wagte nicht, sich daran auszuruhen, und quetschte sich tief in den Spalt hinten im Kamin. Sein Brustkorb wurde von den Wänden wie von einem Schraubstock zusammengepresst, er bekam kaum Luft. Dummheit. So würde er nicht weiterkommen.

Er wand sich wieder ein Stück heraus, bis nur noch eine Körperhälfte eingeklemmt war und er das Gefühl hatte, er könnte jeden Moment herausrutschen und in den dunklen Schacht hinunterstürzen. Er drückte und presste und keuchte, schrappte mit Ellbogen und Knien über den Fels, kam höher – endlich, ein rostzerfressener Haken – klick. Weiter einen Überhang hinaus an Schlingen, von denen einige nicht dicker waren als Schnürsenkel. Über ihm baumelte ein verblichenes Seilstück, er reckte sich, kam nicht hoch genug, um sich daran festzuhalten – zuerst galt es, sich auf diesem Tritt aufzurichten, der aussah wie mit Froschlaich überzogen ...

***

„Aaaaaaaaa!“ Der Schrei hallte an den Wänden wider, es schepperte, rasselte, Papa schoss im Kamin nach unten, klatschte gegen eine Wand, wurde an die gegenüberliegende Seite geschleudert und wieder zurück. Das Seil in Kunis Hand straffte sich mit einem Ruck.

Sein Vater hing nur einen Meter über ihm in der Luft und brüllte vor Schmerzen.
 

 

Über den Autor*Innen

Jörg Bornmann

Als ich im April 2006 mit Wanderfreak an den Start ging, dachte noch keiner an Blogs. Viele schüttelten nur ungläubig den Kopf, als ich Ihnen von meinem Traum erzählte ein reines Online-Wandermagazin auf den Markt zu bringen, welches eine hohe journalistische Qualität aufweisen kann, eine Qualität, die man bisher nur im Printbereich kannte. Mir war dabei bewusst, dass ich Reisejournalisten und Spezialisten finden musste, die an meine Idee glaubten und ich fand sie.