Verfolgungsjagd in den Bergen ...
Martin Keller geht es eigentlich bestens: Er ist ein erfolgreicher, gut bezahlter Arzt und Onkologe bei einer mittelständischen Konstanzer Pharmafirma, hat eine attraktive, sympathische neue Freundin und wohnt in unmittelbarer Nähe zu seinen geliebten Bergen. Doch dann entdeckt er durch Zufall etwas, was er nie hätte erfahren sollen. Nun hat er die Wahl zwischen Loyalität oder ärztlichem Gewissen. Um sich über seine Situation klar zu werden, fährt er in die Tiroler Alpen.
Schon seine erste Unternehmung, die Besteigung des Roten Kreuzkogels, nimmt nicht ganz den erwünschten Verlauf. Als er am nächsten Tag mit einem jungen Pärchen auf einem anderen Gipfel sitzt, muss er durchs Fernglas mit ansehen, wie zwei Männer seinen im Tal geparkten Campingbus aufbrechen – der Auftakt zu einer gnadenlosen Verfolgungsjagd durch das Gebirge mit tödlichem Ausgang.
Rother Bergkrimi
1. Auflage 2013
200 Seiten Format 13,5 x 20,5 cm
kartoniert
EAN 9783763370627
ISBN 978-3-7633-7062-7
12,90 € [D] • 13,30 € [A] • 16,90 SFr
Alle Preisangaben inkl. ges. MwSt.
Leseprobe
Die Armbanduhr weckte ihn mit ihrem ungewohnten Piepsen und er fuhr erschrocken hoch. Der Muskelkater in seinen Beinen ließ Martin Keller die Ereignisse des letzten Tages unmittelbar ins Bewusstsein zurückkehren, sodass er sofort aufstand. Es war acht Uhr und es regnete nicht mehr. Eigentlich wollte er zuerst frühstücken und dann einen Blick nach draußen riskieren, doch als er im Gang stand, entschied er sich, erst aus dem Fenster zu sehen. Vorsichtig schlich er in der Deckung der Kleiderständer zu den Schaufenstern. Es schien ein schöner Tag zu werden. Der Himmel war fast wolkenlos, an den Bergen hingen nur noch ein paar Fetzen, die von der Sonne bald aufgelöst werden würden. Keller beobachtete nicht ohne Neid die sorglosen Menschen, die vorbeiliefen, einige mit einer Zeitung unter dem Arm, manche kamen vom Bäcker und eilten nun zu ihren Lieben, um sie mit herrlich duftenden frischen Brötchen zu versorgen. Die hätten Keller jetzt auch gefallen und er ging zurück in das kleine Büro, um zu frühstücken. Kurze Zeit später gluckerte die Kaffeemaschine. Während er aß, packte er seine wenigen Habseligkeiten zusammen und machte sich abmarschbereit.
Um zwanzig vor neun klingelte das Telefon und Markus teilte ihm mit, dass er in fünf Minuten bei ihm wäre. Keller berichtete ihm, dass Brugger ihn gleich abholen würde.
Durch die Ritzen des Rollladens im Büro war niemand zu sehen. Er schloss die Tür auf und schlich zurück zu den Schaufenstern. Hier konnte er die ganze Straße überblicken. Ein paar Autos, zumeist Touristen, passierten den Laden. Wenig später erschien der Subaru von Bruggers Schwager und er konnte ihn in die Hofeinfahrt abbiegen sehen. Gleich danach sah er den silbergrauen Mitsubishi Pajero schräg gegenüber parken. Er konnte das Stuttgarter Kennzeichen mit bloßem Auge erkennen. Zwei Männer saßen darin. Das, so war ihm gleich klar, war das Schlimmste, was passieren konnte. Die Seitentür des Ladens öffnete sich quietschend. Es konnte nur Markus sein. Keller eilte ihm entgegen.
„Schließ bitte die Tür gleich wieder ab, Markus, die sind dir gefolgt.“
Markus Schuster war ein mittelgroßer, hagerer Mann. Er hatte kurze blonde Haare und ein ebenmäßiges Gesicht mit einer auffallend großen Nase. Seine graublauen Augen blickten ihn erschrocken an.
„Was? Herrgottsackra, Martin, glaub mir, i hab die net gesehen“, sagte er und gab ihm die Hand. Gleich danach drehte er den Schlüssel um.
„Die stehen da draußen, schräg gegenüber. Ein silbergrauer Pajero mit Stuttgarter Nummer.“
„Und jetzt?“, fragte Schuster, und beide schwiegen einen Moment.
„Keine Ahnung!“, entgegnete Keller und schüttelte resignierend den Kopf.
Schuster trippelte unruhig mit den Füßen und ging dann in den Ladenbereich.
„Der Sessellift!“
„Bitte?“
„Der Sessellift! Kannst du abseilen?“
„Wie? Äh, ja klar, habe ich gestern erst, aber ...“, stotterte Keller.
„Komm, jetzt ziehst dir einen Klettergurt unter deine Hose und rennst zum Lift hoch. Wenn die hier vorne reinkommen, gehst hinten raus. I geb dir a gebrauchtes Seil mit und an Karabiner mit am Abseilachter, und wenn’s dir hinterherkommen, kannst immer noch abseilen.“
„Wie abseilen?“
„Na, aus’m Lift!“
Keller stand regungslos da und blickte Schuster mit offenem Mund an.
„Mach schon, mir ham koa Zeit mehr!“ Schuster ging zum Regal mit der Kletterausrüstung und streckte ihm einen Klettergurt entgegen. „I ruf den Josef an, der soll dich holen. Nach der Stütze zwölf kimmt a große Alm. Da isses ideal.“
Von da an nahm Keller alles wie in Trance wahr. Die gleiche Panik wie am Tag zuvor erfasste ihn, aber diesmal war das Ohnmachtsgefühl noch intensiver, weil er wusste, dass Rössle direkt vor der Tür stand und dass es voraussichtlich seine letzte Chance war, ihm zu entkommen.
Markus telefonierte und Keller zog den Klettergurt unter seine Hose. Sie sollten ja nicht gleich sehen, was er vorhatte. Er spürte seine müden Beine nicht mehr, er dachte nicht mehr an sein onkologisches Medikament, nicht mehr an die traurigen Augen des todkranken Patienten Ernst Breitwieser. Nur Nadine ging ihm durch den Kopf. Hoffentlich taten sie ihr nichts an!
Als er die Stimme von Markus hörte, der den Mann im Geschäft begrüßte, der wahrscheinlich Rössle hieß, öffnete er die Seitentür und lief so schnell er konnte. Ausruhen konnte er im Lift. Nur den Lift erreichen, dachte er, nur den Lift erreichen.
Gleich hatte er die Häuser hinter sich gelassen und stieg durch die Weiden in einer steilen Rinne empor. Sein Atem rasselte und seine Beine glühten. Weiter! Er drehte sich nicht um. Läufer oder Radfahrer, die sich umdrehen, werden eingeholt, hieß es immer im Fernsehen. Es waren nur noch ein paar Meter bis zur Fahrstraße, die zur Talstation führt. Dann lief er auf dem Asphalt, nahm die Treppe hinauf und blickte sich dann doch um, bevor er hineinging. Da unten kamen sie. Zwei Männer. Die Männer, die sein Auto geknackt hatten.
„Einfache Fahrt“, hechelte er außer Atem und legte das abgezählte Fahrgeld in die Schale. Der Mann musterte ihn verwundert und schob ihm sein Billet hinüber. Keller nahm es wortlos und rannte weiter.
„Bittschön, der Herr! Einen schönen Tag wünsch ich ...“, rief der Mann ihm noch hinterher und beugte sich nach vorne, um ihm nachzublicken.
„Naah, Tourischten!“, sagte er mit verständnislosem Gesichtsausdruck und setzte sich kopfschüttelnd wieder hin.
Dann saß Keller im Lift. Sofort öffnete er seinen Rucksack, fummelte den Karabiner mit dem Abseilachter heraus, der zuoberst lag, öffnete seine Hose und klinkte ihn in die Abseilschlaufe seines Gurtes. Scheinbar teilnahmslos blickte er in die Landschaft und sah aus dem Augenwinkel die beiden Männer ein paar Sessel hinter sich.
Keller wollte die Stützen des Sessellifts zählen, aber sie waren mit schwarzen Zahlen durchnummeriert. Das war nun wirklich mal praktisch, dachte er und musste lächeln. Jetzt glaubte er diese irrsinnige Aktion hinzubekommen, für Nadine, ja, für Nadine, redete er sich ein.
Die zweite und die dritte Stütze zogen vorüber. Er versuchte ruhig zu bleiben. Der Abstand zwischen ihnen blieb ja gleich. Sie konnten ihn nicht einholen. Er passierte Stütze vier und fünf. Die zwei Männer hinter ihm schienen nichts zu ahnen. Er vermied es, sie direkt anzuschauen, aber aus dem Augenwinkel betrachtet schienen sie ruhig durch die Gegend zu schauen. Die Stützen sechs und sieben zogen vorüber. Er begann das Seil auszupacken. Er sortierte die beiden Hälften links und rechts der Mittelstrebe, über die er die Mittelmarkierung des Seils gelegt hatte.
Die Stützen acht, neun und zehn zogen vorbei, der Wald lichtete sich und Keller sah die Wiesen der Alm. Von links kam die geschotterte Fahrstraße. Nun legte er das Seil doppelt in seinen Abseilachter ein. Gleich war es so weit. Jetzt sah er auch den alten Mercedes-Geländewagen von Josef Brugger.
„Hallo, Josef! Gleich bin ich bei dir“, flüsterte er entschlossen und warf die Seilenden hinab. Dann öffnete er den Sicherheitsbügel, setzte seinen Rucksack auf und hängte sich ans Seil. Es war leichter als er gedacht hatte. Eigentlich entsprach es dem normalen Abseilen, nur dass sich alles rundherum bewegte. Deshalb orientierte er sich zuerst nur an dem Sesselbügel, der langsam über ihm entschwand. Als er der Wiese immer näher kam, war er schon fast euphorisch.
Erst im allerletzten Moment sah er den Weidezaun, dem er nur noch ausweichen konnte, indem er die Beine anzog. Dann war er unten. Er ließ das Seil durch den Abseilachter laufen und schnappte sich das etwas längere Ende, um es abzuziehen. Nachdem es runtergefallen war, blickte er hinauf zu den beiden Männern, die gerade über ihn hinwegfuhren. Einer schaute ihm direkt in die Augen. Er wirkte verärgert und unversöhnlich, aber auch überrascht. Nun sah der Mann nach links. Dort stand, etwa hundert Meter entfernt, Bruggers Auto. Ob sie es erkannt hatten?
Keller verstaute eilig das Seil in seinem Rucksack, während die zwei Männer nun mit dem Rücken zu ihm davonschwebten. Dann lief er in Richtung der Fahrstraße.
Er wartete, bis sie ihn nicht mehr sehen konnten, und stieg ein.
„Morgen, Martin, des war ja a filmreifer Auftritt! Fahrn mer!“, begrüßte Brugger ihn, als er Platz nahm. Seinen Rucksack hatte er auf die Rückbank geworfen. Keller lächelte bittersüß und der Wagen setzte sich in Bewegung.
„Ja, das war’s, Josef. Das war einfach unglaublich.“ Keller grinste und schüttelte den Kopf. „Wie kam dein Schwager denn auf diese irre Idee?“
„Der Markus kennt den Sessellift in- und auswendig, nachdem er so viele Winter bei der Liftgesellschaft gearbeitet hat. Da hat er immer bei den Inspektionen helfen müssen. Hast eh Glück ghabt, dass der Lift überhaupt glaufen is, den Sommerbetrieb hams erscht seit zwoa Jahr.“
Josef Brugger lachte ein wenig und schien zuversichtlich, dass es jetzt wohl noch mal gut gehen würde. Er fuhr zügig bergab, aber da die Straße schmal und schlecht einsehbar war, konnte er nicht allzu schnell werden. Hinter ihnen klapperte allerlei im Laderaum hin und her und als Keller sich umsah, bemerkte Brugger nur grinsend: „I hab mal alles eingepackt, was i für nützlich ghalten hob. Von mir aus kann’s auf Expedition gehen. Mir ham a Zelt, Schlafsäck und Kletterausrüstung, was zum Essen, Kocher und so weiter, ma weiß ja nie.“
Keller lachte.
„Na, hoffentlich brauchen wir’s nicht mehr. Ich glaube, die sind wir erst mal los.“
„Schaut so aus. I hab dacht, mir fahrn nach Vorarlberg nüber. Wennst magst, bring i di auch nach Lindau oder woanders hi. Am besten san wahrscheinlich Nebenstraßen.“
„Na ja, wir haben eigentlich drei Möglichkeiten. Entweder nach Vorarlberg, Richtung Innsbruck oder über den Fernpass. Oder nach Italien natürlich. Aber erst mal müssen wir aus diesem Tal raus.“
Kehre um Kehre kurbelte Brugger sein altes Allradgefährt zu Tale, während Keller ihm erzählte, um was es bei der ganzen Angelegenheit eigentlich ging. Brugger hörte aufmerksam zu und kommentierte Kellers Bericht allenfalls mal mit „Nah, so a Sauerei“ oder einem „Des gibt’s ja nit!“
Das Gefühl, verfolgt zu werden und nirgendwo sicher zu sein, nahm Keller mit ins Tal. Aufgrund dieser Bedrohung war er auch immer noch unsicher, wohin es nun gehen sollte. Schließlich beschloss er erst einmal abzuwarten, bis sie aus dem Tal heraus waren, und wollte sich dann spontan entscheiden.
Als sie Pfals erreichten und auf die Hauptstraße talauswärts abbogen, stellte sich bei beiden Männern Erleichterung ein. Immerhin hätten sie auf der schmalen Schotterstraße auch noch von einem Fuhrwerk oder einem ähnlichen Unheil aufgehalten werden können.
Bald darauf passierten sie das Ortsausgangsschild. Brugger schaute immer wieder in den Rückspiegel. Nun war es noch eine knappe halbe Stunde aus dem Tal heraus. Dann müssten sie sich entscheiden, wohin es gehen sollte. Oder wenigstens, in welche Richtung: nach links oder nach rechts, oder, anders gesagt, nach Deutschland oder nach Italien?
Vor ihnen fuhren nun ein paar Autos und vor diesen der Postbus. Er hielt in jeder der kleinen Ortschaften entlang der Straße. Bruggers betagter Mercedes war zwar kein Rennwagen, aber schneller als der Bus war er immer noch. Dummerweise war die Straße zu kurvig, um mit dem wenig temperamentvollen Dieselkraftwerk vorbeizuziehen. Erst drei Haltestellen weiter unten konnten sie ihn überholen, nachdem bereits der Rest der Schlange das Hindernis passiert hatte. Sie hatten viel Zeit verloren. Nun waren es vielleicht noch fünf Minuten bis zur großen Kreuzung am Talausgang.
„Jetzt überhol doch endlich“, raunzte Brugger. „Erscht kimmt er angefahren wie a Irrer, und nachher fährt er nur noch hintendrein. Na ah so, jetzt hält er eh an.“
Keller, der die letzten Minuten intensiv nachgedacht hatte, fragte: „Wer denn?“
„Na, des Motorrad hinter uns.“
Keller drehte sich um. Der Motorradfahrer hielt gerade in einer Straßenbucht, schaute sich um und stieg ab. Er fuhr eine alte Geländemaschine, hatte einen weißen Helm auf und trug eine dunkelgraue Jacke. Es war keine Motorradjacke, sondern ein Wanderanorak. Auch hatte er eine Wanderhose an. Erst jetzt fiel Keller auf, dass hinter dem Motorrad noch ein Auto hielt. Obwohl er es gleich darauf nicht mehr sehen konnte, weil sie um eine Kurve gefahren waren, war er sich ziemlich sicher, dass es Rössles Auto gewesen war. Deutschland oder Italien würde wohl noch warten müssen.
Über den Autor*Innen
Jörg Bornmann
Als ich im April 2006 mit Wanderfreak an den Start ging, dachte noch keiner an Blogs. Viele schüttelten nur ungläubig den Kopf, als ich Ihnen von meinem Traum erzählte ein reines Online-Wandermagazin auf den Markt zu bringen, welches eine hohe journalistische Qualität aufweisen kann, eine Qualität, die man bisher nur im Printbereich kannte. Mir war dabei bewusst, dass ich Reisejournalisten und Spezialisten finden musste, die an meine Idee glaubten und ich fand sie.