Frauen wandern anders

Frauen wandern anders - Auch Extrembergsteigerin Gerlinde Kaltenbrunner testete das Frauenwandern und stand uns für einige Fragen zur Verfügung - (c) Norbert Eisele-Hein

Wandern in reinen Frauengruppen macht durchaus Sinn, denn Frauen wandern anders. Das haben inzwischen viele Region in den Alpen entdeckt und bieten gezielt Wandertouren, die auf die Wünsche und Vorlieben von Frauen zugeschnitten sind, so auch Reit im Winkel im Chiemgau.

Hier werden wunderbare Wandertouren von Frauen noch zusätzlich mit Frauen-spezifischen Themen angereichert. Die ausgebildete Wanderführerin Annette Heigenhauser hat sich ausgiebig mit den Wünschen von Wanderinnen auseinandergesetzt und erzählt mir als erstes: „Nein, wir reiten nicht auf Besen. Wir tanzen auch nicht ums Lagerfeuer, schauen Fliegenpilze nur an und kochen daraus keine Flugsalbe, um Männer zu vergiften.“ Sie lacht dabei und ich glaube ihr. „Unser ‚Frauen wandern anders‘-Programm sollte auf keinen Fall als überzogener Emanzipierungsversuch aufgefasst werden,“ führt sie weiter aus, „Es geht vielmehr darum eine wunderschöne Wanderung rings um die Bergwelt Reit im Winkl’s mit Frauen-spezifischen Themen anzureichern. Und da bleibt Frau einfach mal gerne unter sich.“

Nach einer kleinen Vorstellungsrunde checkt die ausgebildete Wanderführerin noch die Ausrüstung der TeilnehmerInnen und schon geht’s los. Heute begleitet uns Gerlinde Kaltenbrunner, eine der besten Bergsteigerinnen der Welt. Etwas verwundert frage ich sie: „Fr. Kaltenbrunner, sie haben alle 14 Achttausender ohne künstlichen Sauerstoff bestiegen. Sie sind auf den schwierigsten Bergen der Welt auf extremen Routen unterwegs. Sie waren unzählige Male im Himalaya, wo Sie mit dem K 2 den letzten der 14 Achttausender im siebten Versuch besteigen konnten. Fühlen Sie sich denn heute auf dieser fünfstündigen Wanderung im Chiemgau nicht ein wenig unterfordert?“ Gerlinde Kaltenbrunner schmunzelt und antwortet: „Nein, keineswegs! Ich kenne einige Reit im Winkler persönlich und bin der Einladung sehr gerne gefolgt. Zum Glück geht es auch bei mir nicht immer darum, auf dem höchsten Berg zu stehen oder die schwierigste Route zu wählen.“ Na gut, war wohl wieder eine typische Männerfrage. Denn Frauen laufen nicht einfach drauf los, nur das Gipfelkreuz im Visier. Frauen wandern intensiver, esoterischer und stilvoller – aber Vorsicht: kein bisschen langsamer.

Trotzdem bin ich neugierig und frage Gerlinde (Kaltenbrunner), wir sind ja auf über 1.000 m und damit per Du: „Gehst Du privat tatsächlich auch wandern oder bereitest Du Dich mit speziellem Kraft- und Konditionstraining oder auch in Kletterhallen auf Deine gewaltigen Expeditionen vor?“ „Mountainbiken, Bouldern, Klettertouren, ... ich kombiniere täglich oft mehrere Trainingseinheiten“, antwortet sie mir, „aber einen Teil meiner Grundausdauer hole ich mir tatsächlich auf bis zu zwölfstündigen Wandertouren. Das Wandern macht sogar einen wesentlichen Bestandteil meiner Vorbereitung aus. Ich liebe die Bewegung an der frischen Luft, draußen zu sein. Wind und Wetter zu spüren, die Natur bewusst zu erfahren, gibt mir das intensive Gefühl der Zufriedenheit. Wo könnte ich das besser erhalten als beim Wandern?“

Tautropfen blinken im Gras, Sonnenstrahlen brechen sich tausendfach im Astgewirr des Zauberwalds. Von der Hindenburghütte, knapp 1250 Meter über dem Meeresspiegel, marschieren wir mit flottem Tempo hinauf zur „Höhe“. Auffällig und angenehm, die Damen drängeln nicht. Wir Männer hätten schon längst wieder die Ellbogen ausgefahren. Einen Blick auf die Pulsuhr geworfen. Versucht Erster zu sein. Dabei stellt sich die Frage heute ohnehin nicht. Denn allen voran prescht die Hundedame Paula. Die Vierbeinerin begleitet Annette auf fast allen Touren, kennt die verwunschenen Steiglein schon von zahlreichen Recherchetouren. „Als kleines Mädel durfte ich oft mit meinem Großvater mit. Er war Holzknecht und fast immer fern der Hauptwanderwege unterwegs. Er hat mir diese Geheimpfade gezeigt“, erklärt Annette. Auf der Höhe reicht der Blick über das Achental bis hinunter zum Chiemsee.

Wie ein Saphir leuchtet das ‚Bayrische Meer‘ in der Ferne. Ein schön geschwungener Wanderweg führt uns zur Hemmersuppenalm. Annette erklärt die illustre Namensgebung. „‘Ja, so a Hemmersupp‘n‘, entfuhr es einem Bauer aus dem Tal vor vielen Jahren spöttisch beim Anblick der weitläufigen Alm. Der Hemmer oder auch Weißer Germer genannt ist ein arges Unkraut. Grün, knapp kniehoch und selbst für einen geduldigen Kuhmagen ungenießbar. Nach starken Regenfällen bilden sich in den vielen Mulden noch dazu große Pfützen. Bei uns in Bayern kommt dann meist gleich der Ausspruch: ‚A so a Supp’n‘. Damals gestattete die tägliche Mühsal den Sennerinen nur selten einen schwärmerischen Blick in die paradiesische Landschaft. Und so wurde der Spott zum Namensstifter.“

Weiter geht’s mit schnellem Tempo zur Sankt Anna-Kapelle. Die heilige Anna, die Mutter Marias, gilt als Schutzpatronin für Fruchtbarkeit und Kindersegen. Das schmucke Kirchlein wurde 1902 auf gewachsenem Stein errichtet. „Dies ist ein wahrer Kraftplatz. Eine todkranke Frau wollte hier einen letzten schönen Sommer verbringen. Sie trank täglich aus der nahen Quelle und galt schon bald als geheilt“, erzählt uns Annette. Wir genießen die Stille in dem gepflegten Kleinod. Füllen unsere Wasserflaschen, natürlich auch an der Heilquelle. „Das Wasser verhilft auch zu faltenloser, schöner Haut“, verheißt Annette. Hilft das jetzt nur Frauen oder auch mir als Mann?

Kurz vor der Pflegereck-Hütte ziehen wir die Schuhe aus. Ein Barfußpfad führt uns über Stock und Stein, butterweiche Moose und feuchtes, piksendes Gras. Der Wald verströmt wohltuende Hustenbonbon-Luft, Baumwipfel wiegen sich in der leichten Brise, Vogelgezwitscher aus allen Himmelsrichtungen. Zugegeben - viele Männer wären wohl achtlos durch gestapft. Aber Annette fordert uns auf aktiv zu fühlen, zu riechen und zu sehen. Sie legt auch stets ein besonderes Augenmerk auf die heimische Flora und Fauna. Zeigt uns Frauenschuh-Orchideen, deutet wie ein Indianer-Scout auf Spuren von Rotwild. War Winnetou nicht ein Bubenthema?

Die Damen halten ein stattliches Tempo und bei mir macht sich mein Magen lautstark bemerkbar. Annette kann scheinbar Gedanken lesen oder hat sie das Knurren am Ende gehört? Jedenfalls packt sie gleich darauf an der Pflegereck-Alm einen frischen Laib Brot, Wurst, Käse und Radieschen aus. Die Speisen landen wohlarrangiert auf einem Spitzendeckchen. Oh, ja da ist er wieder, der feine Unterschied. Ich behalte es für mich, dass ich mir wahrscheinlich nur schnell einen Müsliriegel in „die untere Gesichtshälfte zentriert hätte“ (wie das bei meinen Wanderkollegen häufig etwas flapsig formuliert wird).

Weiter geht es unterhalb einer Felswand auf einem hüftbreiten, teilweise exponierten Steiglein. „Nehmt Euch einen Handschmeichler mit. Einen formschönen Stein, ein kleines Stück Wurzelholz oder Rinde. Macht euch Gedanken über eure Wünsche, Ziele, Hoffnungen.“ Wie aus dem Nichts taucht mitten im Felsbalkon eine kleine Grotte mit einer Madonnenstatue auf. „Berührt den Fels und den Handschmeichler mit all euren Gedanken könnt ihr an diesem Kraftort ablegen,“ empfiehlt Annette. Die TeilnehmerInnen wirken nachdenklich, bewegt. Aber schon nach einer kurzen Weile sorgt eine hyperaktive Murmeltierkolonie, die sich ausgiebig auf einer zauberhaften Waldlichtung balgt, für ausgelassene Stimmung. Fünf Stunden und 400 Höhenmeter später gelangen wir wieder zur Hindenburghütte.

Noch eine letzte Frage an Gerlinde Kaltenbrunner: „Wie fandest Du das Programm von Annette?“ „Ich bin ehrlich gesagt absolut begeistert eben nicht nur den Gipfel in den Vordergrund zu stellen oder als Ziel zu betrachten, sich keinem Leistungsdruck unterzuordnen, das finde ich gut,“ antwortet sie mir, „bewusst inspirierende Kraftorte aufzusuchen, Pausen zum Meditieren einlegen, die Gerüche des Waldes, Pflanzen und Kräuter intensiv wahrzunehmen, ... das alles in einer traumhaften Landschaft, eine tolle Idee. Das bedeutet Naturgenuss pur für Körper und Geist und setzt jede Menge Energie frei.“

Wie gut, dass die Hüttenwirtin Sissy Dirnhofer berühmt für ihre grandiosen Braten und hausgemachten Strudel ist und da merke ich doch noch eine Gemeinsamkeit, sowohl die Damen als auch Männer haben nach der Wanderung eine kulinarische Belohnung im Sinn.

Weitere Informationen
Reit im Winkl
Hindenburghütte

Über den Autor*Innen

Norbert Eisele-Hein

Der Münchner Fotojournalist Norbert Eisele-Hein finanzierte bereits sein Ethnologie-Studium in München und London mit bildgewaltigen Reisereportagen für namhafte Magazine. Ehe er sich vollauf der Outdoor- und Actionfotografie widmete, assistierte er bei zahlreichen Studiofotografen in München und London, um das Handwerk von der Pike auf zu lernen. Die Lust am Schreiben wuchs dabei beständig mit.